Richard Galliano

Ohne Netz und doppelten Boden

von Stefan Franzen

Selten hat es im Jazz eine derartige Verschmelzung eines Musikers mit seinem Werkzeug gegeben: Richard Galliano und das Akkordeon. Der Franzose mit italienischen Vorfahren hat das vielleicht universellste Instrument der Musikgeschichte in fast jede vorstellbare stilistische Richtung und in eine Fülle internationaler Begegnungen hineingetragen. Sein Spektrum fächert sich dabei von traditionsgetreuem Spiel bis zu cleveren Innovationen auf. Sage und schreibe 50 Jahre ist Galliano nun auf der Bühne, und jedes Mal ist es für ihn und sein Publikum aufs Neue ein Abenteuer: „Für mich ist jedes Konzert einzigartig“, bekennt er. „Das Programm ist dabei völlig abhängig vom Spielort, der Akustik und dem Publikum.“ Für ihn ist jeder Auftritt ein lustvolles, spielfreudiges Risiko.  

Jazzfest Bonn Richard Galliano

Richard Galliano / Bild: Galliano

Den weltumspannenden, grenzenlosen Charakter seines Akkordeons hat Galliano seit den 1970ern in immer neuen Kollaborationen ausgelotet. Schon als junger Wilder sprengte er die Fesseln, die die französische Tradition dem Balgkasten angelegt hatte, und er bereitete ihm rasch den Weg in den Jazz.  

Begegnungen mit dem Trompeter Chet Baker, dem Mundharmonika-Virtuosen Toots Thielemans und dem Bassisten Ron Carter ließen ihn daher zunächst vom Pfad traditioneller Töne abschweifen. Bis sein enger Freund, der Tango- Nuevo-Erfinder Astor Piazzolla, ihn ermunterte, zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Ebenso wie Piazzolla es selbst auf Anraten von Nadia Boulanger für Argentinien getan hatte, schlug er vor, sein Freund möge einen eigenen Ton in der französischen und mediterranen Musik erschaffen.  

Galliano nahm sich die Musette vor, jene Tanzmusik der beschwingten Walzer im Neunachtel-Takt, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert in den Pariser Kneipen und Ballsälen gespielt worden war. Mit Rhythmen, die er vom herkömmlichen Akkordeon-Walzer befreite, und mit der Ausarbeitung einer komplexen Jazzharmonik schuf er Anfang der Neunziger sein Markenzeichen, die „New Musette“. „Mein Stil ist die Frucht meiner musikalischen Laufbahn“, sagt er, „klassische Musik, Zeitgenössisches, Jazz, Musette, Tango und französisches Chanson finden hier ohne Vorurteil zusammen.“ Seine Spritztouren in den Gypsy Swing, zu brasilianischen Tönen und Balkanfärbungen hat er da noch gar nicht erwähnt!  

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Stefan Franzen

erkundet als Autor von Radiosendungen (SWR, SRF, Deutschlandfunk, WDR), Journalist für Fachzeitschriften (Jazz thing, Folker) und Programmtexter seit dreißig Jahren die Musikkulturen aller Erdteile. Er ist Kurator und Beirat bei Festivals und Jury-Mitglied beim Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Seine besondere Liebe gilt der Szene Brasiliens und Portugals.

Frankreich blieb für den Mann aus Cannes immer die Basis zu den verschiedensten Ausflugszielen, und er wirkte dabei wie ein Magnet auf Musiker verschiedenster Couleur. Zu seinen Kombattanten zählten der Sinti-Gitarrist Biréli Lagrène genauso wie Klarinettist Michel Portal, Organist Eddy Louiss ebenso wie der Schweizer Schlagzeuger Daniel Humair. Als Fixpunkt umkreiste er oft das Werk Piazzollas, wagte sich aber auch auf klassisches Terrain, adaptierte Johann Sebastian Bach und Vivaldi, Tschaikowsky, Ravel oder Satie. Bei all diesen Teamworks zieht sich Richard Galliano aber auch immer wieder in die intimste Besetzung überhaupt zurück: „Seit meiner Kindheit bin ich es gewohnt, allein aufzutreten. Das Akkordeon besitzt ja eine wirklich orchestrale Dimension und erlaubt das Solospiel immer. Außerdem garantiert mir ein Solokonzert totale Freiheit: Ich kann spontan ein Programm entwickeln, ohne Vorüberlegungen, ohne Netz und doppelten Boden.“  

Richard Galliano setzt dabei auf ein chromatisches Knopfakkordeon der italienischen Firma Victoria, das mit seinen zahlreichen Registern verschiedene Klangfarben erzeugen kann. Sie reichen sogar bis zum Timbre einer Flöte oder eines Fagotts. Die in den Sechzigerjahren gebauten Exemplare besitzen einen differenzierten und zugleich kraftvollen Klang mit einer großen „Lunge“. Damit weisen sie Querverbindungen zu einem Instrument mit ähnlichem Lungenvolumen auf, der Kirchenorgel.  

Es passt also trefflich, dass Galliano in einem Doppelkonzert mit dem Organisten Frank Danksagmüller auftreten wird. „Das Akkordeon ist wie eine expressive Orgel, dank seines Blasebalgs. Dazu kommt, dass es die gleichen differenzierten Qualitäten und Möglichkeiten der Spielgestaltung aufweist wie der Bogen der Streichinstrumente. Akkordeon und Orgel ergänzen sich auf’s Schönste“, so die Ansicht von Galliano, der mit dem Organisten Thierry Escaich auf der Produktion Aria auch ein Duo mit dem verwandten Instrument eingespielt hat.  

Dass er in einer Kirche auftritt, ist für ihn als Solokünstler ein Geschenk: „Wenn wir von der Akustik sprechen, ist die Kirche der ideale Ort. Der ausdrucksstarke Ton meines Instruments kommt hier besonders gut zum Vorschein.“ Und so darf man von Richard Gallianos Soloparcours ein zugleich risikofreudiges wie spirituelles Erlebnis mit ungeahnten Klangfacetten erwarten.  

Richard Galliano | so 28 april ’24 20 h | Bonner Münster

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